„Autsch! Au au weh, meine Nase!“ schon wieder ist Cilli gegen ein geschlossenes Fenster geflogen. Und schon wieder ist ihr goldener Stern in ihren Locken verrutscht. Manchmal ist Cilli ein bisschen stürmisch, fliegt viel zu schnell und schafft es dann nicht rechtzeitig, vor den Kinderzimmerfenstern abzubremsen. Noch etwas schwummerig sitzt Cilli an einem Fensterbrett in der Sieveringer Straße und schaut zum Fenster hinein.
Allein würde der Nikolaus es ja nie schaffen, alle Kinder aufrichtig zu beobachten. Woher soll er dann wissen, ob sie alle brav sind? Es gibt ja sehr, sehr viele Kinder! Dafür hat er seine Hilfsengel. Die fliegen von Fenster zu Fenster und sehen nach, wie brav die Kinder sind.

Alles, was sie beobachten, schreiben sie dem Nikolaus auf und tragen es sauber in sein GOLDENES BUCH ein.

Cilli ist so ein Hilfsengel vom Nikolaus und für Döbling zuständig. Sie ist ungefähr so groß wie eine Tafel Schokolade, sie trägt ein weißes Hemdchen, hat eine süße Stupsnase, goldene Sommersprossen und in ihren blonden Locken sitzt ein goldener Stern. So sitzt sie also nun vor Livias Fenster. Livia ist bestimmt ein sehr liebes Mädchen, denn sie räumt gerade alle Legosteine brav in die Spielzeugkiste. Das notiert Cilli gleich begeistert in ihr Notizheftchen. Da ruft ihre Mama ihr zu: „Livia, es ist Zeit zum Zähne putzen! Machst du das?“ „Ja!“ ruft Livia und geht ins Badezimmer. Cilli fliegt zum Badezimmerfenster und sieht, wie Livia gehorsam den Wasserhahn aufdreht, die Zahncreme auf die Zahnbürste drückt und … – huch! Cilli reißt die Augen auf! Was macht sie da? Livia verwendet die Zahnbürste wie einen Pinsel und malt mit der Zahnbürste auf die saubere Badezimmerfliese ein kleines Herzchen! Noch eines. Und noch eines. Dann noch ein größeres und wieder ein kleineres. Muss die Zahncreme nicht eigentlich auf die Zähne? „Livia, bist du fertig mit dem Zähne putzen?“, ruft Livias Mama. „Jahaaa!“ sagt Livia, dreht den Wasserhahn zu und steckt die Zahnbürste zurück in den Becher.
Was? Die hat ja gar nicht Zähne geputzt. Und dann noch gelogen!
Cilli schreibt alles auf, was sie gesehen hat und als Livia schläft, macht sie sich auf den Weg zurück in den Himmel. Ihre kleinen Flügel müssen kräftig die gesamte Sieveringer Straße hinauf flattern, danach über die Weinberge und schließlich immer höher und höher bis sie ganz oben ist. Quer durch viele kleine Wolken, nach der letzten rechts rüber zu der großen weißen Wolke mit dem wunderschönen Schreibtisch aus massivem Himmelsgestein. Auf dem Schreibtisch liegt eine goldene Feder, daneben ein Tintenfass und dann, in der Mitte des Schreibtisches, liegt das große GOLDENE BUCH. Mit der Feder trägt Cilli nun alles, was sie bei Livia gesehen hat, in das GOLDENE BUCH ein.
Plötzlich erscheint der Nikolaus höchst persönlich auf der Wolke. Er trägt schon seine rote Mütze mit weißem Fellrand, seine rote Jacke mit schwarzem Gürtel und dazu auch seine rote Hose. Er bereitet sich vor, um zu den Kindern auf die Erde zu fahren. „Cilli“ sagt er „hast du schon alle Kinder ins GOLDENE BUCH eingetragen? Ich finde hier alles über den Leo, über den Vincent, die Emilia, den Luis, über die Julia, auch über die Livia und die Paula, …“ – der Nikolaus kontrolliert genau, ob alle Kinder aus Döbling eingetragen sind – „nur der Timo fehlt noch!“ Der Nikolaus blättert noch einmal durch das GOLDENE BUCH. Seite für Seite. Aber tatsächlich, über den Timo aus der Obkirchergasse steht hier nichts. „Um Himmels Willen, entschuldige lieber Nikolaus, den habe ich vergessen!“ „Macht nichts, liebe Cilli, ich muss eh noch meine Stiefel anziehen, die Rentiere füttern und meinen großen Sack auf den Schlitten laden. In der Zwischenzeit kannst du ja noch zu Timo auf die Erde fliegen. Aber berichte mir ganz genau, ich habe schon viele Dinge über ihn gehört!“
Wie konnte das passieren? Schnell macht sich Cilli auf den Weg, sie fliegt noch schneller als sonst. Superüberdrüberturboschnell! Und … zack! „Autsch! Schon wieder meine Nase!“ Schon wieder ist Cilli mit voller Geschwindigkeit gegen ein Fenster gekracht, diesmal gegen das Kinderzimmerfenster von Timo. Cilli brummt der Kopf, aber für Jammern ist jetzt keine Zeit. Allerdings ist es im Kinderzimmer dunkel, sie kann nichts sehen. Sie eilt zum nächsten Fenster, doch auch dort ist es dunkel. Beim nächsten Fenster auch und bei allen anderen Fenstern auch. Offensichtlich ist Timo gar nicht zuhause. Was jetzt? Sie muss ihn doch noch genau beobachten!

Cilli hat eine Idee! Gleich wenige Meter die Straße runter ist der Sonnbergmarkt, da könnte Timo doch sein! Sie fliegt sofort dort hin und setzt sich auf die rot-weiß-gestreifte Markise des ersten Gemüsehändlers. Von dort hat sie einen guten Blick. Ist Timo irgendwo da unten unter den vielen Leuten?
Hoppla! Oh je, damit werden die Menschen hier wohl keine Freude haben! Überall auf dem Boden liegen Orangen und kullern durch die enge Marktgasse. „Timo, ich habe dir doch gesagt, du sollst keinesfalls selbst Orangen rausnehmen, und schon gar nicht von unten!“ Aha! ‚Timo’ also, Cilli hatte ihn gefunden. Etwas eingeschüchtert von dem Chaos, das er verursacht hat, klammert sich Timo an seine Mutter, die sich bei einem Herrn in einer dunkelgrünen Daunenjacke entschuldigt und den Schaden bezahlt.

Das muss Cilli nun gleich über Timo notieren – ob sie will oder nicht. Sie beobachtet einfach weiter, vielleicht macht Timo ja jetzt gleich was ganz Braves! Na bitte, er geht ganz lieb an der Hand seiner Mama weiter. Seine Mama bleibt beim Bioladen stehen und bestellt Mangold, Schwarzwurzeln und Spinat. Timo steht ganz still bei seiner Mutter. Könnte man meinen. Cilli hat aber sehr scharfe Augen und sieht ganz genau, dass er unauffällig die Preisschilder an den Warenkörben vor ihm vertauscht. So werden teure Preise werden billig und umgekehrt. Cilli schüttelt sorgenvoll den Kopf, während ihre blonden Locken nur so hin und herfliegen. Gewissenhaft schreibt Cilli alles auf. Währenddessen ist Timo ins Innere des Ladens gegangen und betrachtet die sternförmigen Lebkuchen. Cilli hüpft hinterher und versteckt sich hinter einer Flasche Traubensaft. Oh ja, die Lebkuchen sehen wirklich sehr lecker aus. Timo riecht verdächtigt lange an der Verpackung. „Nein, Timo!“ flüstert Cilli, „Nein, tu es nicht!“ Timo kann das kleine Hilfsengelchen natürlich nicht hören, reißt neugierig die Verpackung auf, ganz vorsichtig und leise, und beißt von dem Lebkuchen-Stern einen Zacken ab. Genussvoll kauend und mit einem Unschuldsblick geht er zu seiner Mama zurück. „Das wird ja immer schlimmer!“ denkt sich Cilli und notiert selbstverständlich auch das. Zum Nikolaus muss man ehrlich sein, das ist klar. Die Mama von Timo hat nichts bemerkt, packt ihr Gemüse in ihren Einkaufskorb und nimmt ihren kleinen Lausebengel an der Hand. Auf dem Nachhauseweg ruft Timo „Ich will Schokolade!“, doch die Mama schüttelt den Kopf. „Nein, Timo, heute kommt der Nikolaus, der bringt vielleicht Schokolade mit!“ erklärt seine Mutter. „Ich will aber jetzt Schokolade!“ ruft Timo nun etwas lauter. „Timo, warte doch bis wir zuhause sind!“ will seine Mama ihn beruhigen „NEIN!“ brüllt Timo. „NEIN, ICH WILL JETZT!“ Timo hat einen zornig roten Kopf, wirft sich auf den Bürgersteig der Obkirchergasse und strampelt wild mit den Beinen.
Cilli hält sich die Augen zu, sie will das gar nicht mehr sehen. Wenn sie das auch noch in das GOLDENE BUCH schreibt, wird der Nikolaus dann wirklich nichts schenken? Das wäre sehr traurig.
Schleunigst muss Cilli zurück in den Himmel, hinauf zur großen Wolke, hinauf zum GOLDENEN BUCH. Sie taucht die goldene Feder wieder ins Tintenfass und schreibt alles auf.

    Timo:
    Gute Sachen:
    —

    Schlimme Sachen:
    • Timo hat Orangen hinunter geworfen
    • Timo hat Preisschilder vertauscht
    • Timo hat vom Lebkuchen abgebissen
    • Timo hat zornig herumgebrüllt

Cilli packt das GOLDENE BUCH und fliegt damit zum Schlitten. Hier sind auch viele andere Hilfsengel und füllen fleißig Erdnüsse, Mandarinen, Äpfel, kleine Lebkuchen und Schokolade in den großen Geschenkesack. Dann heben alle Engel gemeinsam den schweren Sack auf den Schlitten. Uff! Geschafft! Cilli legt das GOLDENE BUCH vorne auf die Ablage.
Da kommt auch schon der Nikolaus: „Cilli, könntest du noch mitkommen und mir beim Geschenke verteilen helfen?“
„Ja, klar!“ sagt Cilli.
Der Nikolaus zeigt auf das GOLDENE BUCH: „Hast du den Timo eigentlich noch eingetragen?“
„Ja, hab ich.“ sagt Cilli.
„Und? War er brav?“ Cilli ist das so unangenehm, dass ihre goldenen Sommersprossen sofort aufhören zu leuchten. Sie will nichts Schlechtes über Timo sagen, aber brav war er wirklich nicht. Kriegt er kein Geschenk, wenn der Nikolaus im GOLDENEN BUCH liest, was Timo auf dem Sonnbergmarkt gemacht hat? Ui Ui Ui.

Ohne die Antwort abzuwarten, steigt der Nikolaus auf den Schlitten, zieht die Zügel straff und ruft seinen Rentieren ein kräftiges „Los geht’s!“ zu. Die Rentiere starten sofort los, springen von Wolke zu Wolke und düsen durch die Nacht auf die Erde. Kurz nach den Weinbergen landen sie auf der Agnesgasse und traben ruhig durch den weichen Schnee. Plötzlich läuft ein Eichhörnchen über die Straße, die Rentiere reagieren schnell und bremsen den Schlitten scharf ab. Cilli hält sofort den Sack fest, damit durch die Bremsung nicht alle Geschenke und Leckereien in den Schnee purzeln.

„Sehr gut, Cilli!“ lobt der Nikolaus.
Ein Rentier zeigt mit seinem Vorderhuf auf etwas Goldenes im Schnee. Oh Schreck! Was nämlich in den Schnee gepurzelt ist, ist das GOLDENE BUCH! Der Nikolaus steigt vom Schlitten und hebt es auf. Doch leider sind vom Schnee alle Seiten nass geworden. Er blättert durch das Buch. Alle Einträge, die Cilli so mühevoll gemacht hat, sind so verwischt, dass man sie nicht mehr lesen kann. Alles, was sie über den Leo, über den Vincent, die Emilia, den Luis, über die Julia, auch über die Livia und die Paula und über den Timo aufgeschrieben hat, hat der Schnee einfach gelöscht.

„Hm,“ murmelt da der Nikolaus. „da hilft nur eins. Wir bringen einfach jedem Kind gleich viel Geschenke.“
„Jaaa!“ quiekt Cilli vor Freude und ihre Sommersprossen leuchten so sehr, dass es kurzzeitig richtig hell um sie herum wird. „Das ist die beste Idee!“
„Warum freut dich das so?“ wundert sich der Nikolaus.
„Och … nur so …!“